Zu den Ereignissen in der Kabylei


Referat bei der Sitzung des SDAJ-Bundesvorstandes, 27. Mai 2001, zu den Ereignissen in der Kabylei

Liebe Genossinnen und Genossen,

72 Tage vor Beginn der Weltfestspiele sind wir mit einem Aufstand in der Kabylei, einer Region rund 100 Kilometer östlich von Algier, konfrontiert. Eine Situation, die unsere Vorbereitung auf das Festival natürlich nicht einfacher macht.

Was ist genau passiert? Ende April jährte sich zum 21. Mal der sogenannte „Berberfrühling“ von 1980, einem Aufstand der kabylischen Minderheit für ihre kulturellen und sozialen Rechte. Traditionell gehen die Kabylen – oder Masiren – an diesem Jahrestag auf die Straße, um ihrer Forderung nach der Verankerung ihrer kulturellen Identität in der algerischen Verfassung Nachdruck zu verleihen. Bislang ist nämlich das Tamazight, die Sprache der Kabylen, nicht neben dem Arabischen als Staatssprache festgeschrieben, ebensowenig wie die masirische Identität als Teil der Gesamtidentität des algerischen Volkes anerkannt ist. Hinzu kommt, daß die Kabylei die Region Algeriens ist, die am unmittelbasten die Folgen der von IWF und Weltbank Algerien verordneten Politik zu spüren bekommt. Gerade dort sind zahlreiche staatliche Industriebetriebe geschlossen oder privatisiert worden, die Arbeitslosigkeit wird mit 30 Prozent angegeben. Das ist die Konsequenz einer Politik, die der algerischen Regierung den Ruf eingebracht hatte, ein „Musterschüler des IWF“ zu sein.

Deshalb ist klar, daß die Stimmung gerade unter der Jugend in der Kabylei ohnehin gespannt war, die Perspektivlosigkeit war allgegenwärtig und wurde durch den noch immer nicht völlig ausgestandenen Krieg gegen den islamistischen Terror noch weiter verschärft. Und genau in dieser Situation kam am 18. April ein Gymnasiast in Polizeigewahrsam ums Leben, bzw. wurde, wie es die algerischen Kommunisten und die masirischen Jugendlichen formulieren, von der Polizei ermordet.

Das war der Auslöser für tagelange Unruhen, die von der Hauptstadt der Region, Tizi-Ouzou, auf die gesamte Region übergriffen. Die Polizei reagierte darauf mit brutaler Gewalt und setzte auch Schußwaffen gegen die revoltierenden Jugendlichen ein. Die Gesamtzahl der Toten wird auf 60 bis 80 Menschen geschätzt.

Anfang Mai griff die Protestbewegung auch auf andere Regionen Algeriens und auch auf die Hauptstadt Algier über. Besonders an den Universitäten kam es zu Aktionen und Kungebungen gegen die Regierungspolitik. Das macht deutlich, daß hinter den Unruhen mehr steht als die Forderung nach kulturellen Rechten, sondern das es sich um sozialen Protest gegen die unsoziale Politik der algerischen Regierung handelt. Allerdings fehlt dieser Protestbewegung eine Führung und insbesondere gibt es keine klare linke Orientierung. Dadurch kam es bereits teilweise zu einem reaktionären Ausschlag der Proteste. Es ist ein deutliches Zeichen für das Versagen der algerischen Regierung, wenn bei Demonstrationen Losungen wie „GIA – das Volk ist auf eurer Seite“ zu hören sind. Die GIA – Bewaffnete Islamische Gruppen – sind die gewalttätigste Fraktion der Islamisten. Bislang hatten die Islamisten in der Kabylei praktisch keinen Rückhalt, eine solche Parole wäre vor fünf Jahren völlig undenkbar gewesen.

Für die algerische Politik ist wichtig, daß die beiden größten „gemäßigt linken“ Parteien des Landes, die sozialdemokratische FFS und die links-demokratische RCD, praktisch kabylische Regionalparteien sind. Beide hatten während der Unruhen ihre Anhänger dazu aufgerufen, Ruhe zu bewahren, aber ihren Einfluß auf die Menschen offenbar verloren. Während die der sozialdemokratischen Internationale angeschlossene FFS bereits vor den Unruhen in Opposition zur Regierung stand, verließ die RCD aus Protest gegen das brutale Vorgehen der Polizei die Regierung. Sie könne nicht länger einer Regierung angehören, die auf demonstrierende Jugendliche schießt, erklärte diese Partei, die zwar in den letzten Jahren einiges an linken Positionen eingebüßt hat, die aber noch immer die linke Flanke der algerischen Regierung dargestellt hatte. Wenn der Austritt der RCD aus der Regierung auch keine unmittelbaren Folgen hat, weil die Regierung auch weiterhin im Parlament die Mehrheit hat, so müssen wir doch davon ausgehen, daß die Achse der algerischen Regierung sich damit ein Stück weiter nach Rechts bewegt hat, insbesondere mit Blick auf Kompromisse mit den Islamisten, deren entschiedene Gegnerin die RCD seit jeher war.

Algeriens Präsident Bouteflika gab am 30. April eine Erklärung ab, mit der er die Unruhen eindämmen wollte. Er bedauerte in dieser Ansprache den Tod der Demonstranten, kündigte eine Untersuchung der Ereignisse an – wobei er allerdings zunächst das Vorgehen der Polizei verteidigte – und sprach außerdem von einer „Verfassungsergänzung“, die möglicherweise das „Berbertum“ neben dem „Arabertum“ und dem Islam als konstituierende Elemente der algerischen Nation festschreiben soll. Außerdem sah er sich zu der Aussage gezwungen, daß die Kabylei wie andere Regionen Algeriens „mit Problemen der Sicherheit, Arbeitslosigkeit, Wohnungsproblemen und der Ungewissheit der Zukunft“ konfrontiert sei.

Die algerischen Kommunisten der PADS haben sich in einer Erklärung wie folgt zu den Ereignissen geäußert:
„Die beharrliche Ablehnung der Regierung, das Tamazight anzuerkennen, wird mehr denn je zu einer Gefahr für die terrioriale Einheit des Landes. Diese Beschränktheit kann jederzeit durch die imperialistischen Kräfte als idealer Vorwand für eine Intervention in unserem Land ausgenutzt werden, um es ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben. Reaktionäre Kräfte nutzen die Ablehnung des Tamazight als Mittel zur Spaltung der Arbeiter durch die Herrschenden. Sie wollen ihren Plan der Privatisierung des Erdöls, der vollständigen Demontage des öffentlichen Sektors und des Ausverkaufs der Reichtümer des Landes beschleunigen. Diese Kräfte wollen von ihren Absichten ablenken, um diese ohne starken und vereinten Widerstand durchsetzen zu können. Es ist Teil der klassischen Strategie der erbitterten Feinde der Arbeiter und der Massen, die Arbeiter unter ethnischen Vorwänden gegeneinander zu hetzen.“

Auch der algerische Jugendverband UNJA, auf algerischer Seite einer der Organisatoren der Weltfestspiele, hat sich in einer Erklärung mit den protestierenden Jugendlichen solidarisiert und gegen die brutale Unterdrückung protestiert.

Die Warnung unserer algerischen Genossinnen und Genossen vor einer imperialistischen Intervention in Algerien ist durchaus real. So fordert zum Beispiel die sozialdemokratische FFS die UNO und die EU zu einem „Eingreifen“ in Algerien auf und die „Sozialdemokratische Partei Europas“ bläst ins gleiche Horn.

Wir müssen natürlich klar sagen, daß wir Schüsse auf Demos von Jugendlichen und Studierenden nicht hinnehmen können, und dies auch in Algerien selbst deutlich machen, so wie es auch der WBDJ selbst tut. Wir müssen aber genauso betonen, daß die Weltfestspiele eben keine Jubelveranstaltung für die algerische Regierung sind, sondern ein Festival der demokratischen und antiimperialistischen Jugend und Studierenden der Welt. Und damit wären wir bei diesen kursierenden Aufrufen, die Weltfestspiele zu boykottieren.

So heißt es in einem Aufruf einer „Antiimperialistischen Koordination“ aus Österreich:
„Ein solches Regime hat jede Berechtigung, sich mit der Abhaltung der  internationalen Jugendfestspiele in die Tradition der kommunistischen Weltbewegung stellen zu wollen, verwirkt!
Keine Teilnahme an den Jugendfestspielen in Algerien!“

Eine Sache hierzu vorweg: Ich habe den starken Eindruck, daß dieser Gruppe einen Vorwand suchte, zu einem Boykott der Weltfestspiele aufzurufen. Und wenn wir einmal die Homepage dieser Gruppe anklicken, dann sehen wir auch, warum. Die rufen nämlich zu einem „Internationalen Sommercamp“ in Italien auf, das genau zwei Tage vor Beginn der Weltfestspiele zu Ende geht. Das bedeutet zumindest, daß diese Gruppe nie vor hatte, an den Weltfestspielen teilzunehmen – und vielleicht eher die Konkurrenz durch unser Festival fürchtet.
Diese Gruppe aus dem linken Sektiererspektrum trifft sich mit ihrem Boykottaufruf übrigens mit ähnlichen Appellen aus dem Umfeld der französischen Sozialisten und der PCF.
Ein Vertreter des WBDJ meinte hierzu in einer Mail vor einigen Tagen: „Für einen Boykottaufruf muss man schon etwas Dreck am Stecken haben”.

Ich glaube also, wie sollten klar Stellung beziehen gegen die brutale Unterdrückung der Demonstrationen, gegen die imperialistische Einmischung und Ausplünderung und für starke, antiimperialistische Weltfestspiele.